02.07.–19.08.2022
Benedikt Bock | Keren Cytter | Vincente Lesser | Manuela Morales Délano | Dominic Michel | Ser Serpas
Curated by Violeta Burckhardt & Andreas Wagner
Exhibition View
Exhibition view
Trickled Harness baleful fall in, 2022, mixed media, 220 x 250 x 170 cm, Ser Serpas, Courtesy the artist and Karma International, Zurich
Angst I, 2022, sausage paper on photo cardboard, 40 x 50cm, Benedikt Bock, courtesy of the artist
Exhibition view
Exhibition view
Exhibition view
Parents apartment, 2020, pen on paper, 98 x 103 cm, Keren Cytter, courtesy of Cliff’s father
Clearspring Dafalgan, 2022, Silkscreen ink on cardboard boxes, 18.5 x 9 x 5 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
Exhibition view
McVitie's Dafalgan, 2022, Silkscreen ink on cardboard boxes, 9 x 18 x 7 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
lane Dafalgan, 2022, Silkscreen ink on cardboard boxes, 21 x 9 x 9.5 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
Exhibition view
Taco Estaca, 2022, wood, fabric, acrylic paint and high heel, 285 x 10 x 20 cm, Manuela Morales Délano, courtesy of the artist
Exhibition view
Queens, 2021, pen and markers on paper, 47 x 37 cm, Keren Cytter, courtesy of the artist
Gate to Llano del Rio, 2021, ceramic, cigarettes, 55 x 55 x 60 cm, Vincente Lesser, courtesy of the artist
Taco Estaquita, Year 2021, wood, fabric, acrylic paint and high heel, 110 x 10 x 20 cm, Manuela Morales Délano, courtesy of the artist
Exhibition View
Track I/II, 2022, wood, metal, faux leather, paint, 25 x 16 x 27 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
D
Robert Zweifel – Die gelben Borsten des Dürerhasen
Robert Zweifel – Die gelben Borsten des Dürerhasen Robert zog langsam die hölzerne Eingangstür der Gotthard Bar hinter sich zu. Auch der Sauerstoff der guten und kalten Winterluft, der erst in seine Lungen und dann in seinen Kreislauf strömte, war nicht im Stande seinen Kopf von der Belagerung zu befreien, die scheinbar unbemerkt durch die Hintertür seines Unterbewusstseins in das Wohnzimmer seiner Denkstube vorgedrungen war. Alle freien Räume waren umzingelt, sein Hirn war besetzt.
Er starrte an die gegenüberliegende Hauswand und sah sich selbst, wie er eben noch an der Bar saß und regelmäßig kleine Schlücke von einem Bier nahm, das er durch ein Neues ersetzen ließ, wenn er den Boden des Glases sah. Robert saß gern an der Bar. Eine Bar war für ihn wie ein Strand, an den zufällige Gespräche gespült wurden wie Treibholz. Ähnlich wie er selbst. Vor zweiundvierzig Jahren gestrandet auf der Erde, gestrandet in Zentraleuropa und gestrandet auf einer Insel des Wohlstands, deren Palmen Kokosnüsse trugen, die bis oben hin mit dem süßen Saft der Finanzmärkte und des Transithandels gefüllt waren und schmatzend glucksten, wenn man sie schüttelte. In der Gotthard Bar war das allerdings egal. Hier schien alles irgendwie austauschbar und gewöhnlich. Und hier an der Bar konnte Robert einfach sein. Er musste nichts tun und wurde hier auch in Ruhe gelassen, sein Prinzip der aktiven Passivität. Das Prinzip der aktiven Passivität hatte Robert in den letzten Wochen für sich zu einer Art Lebensreform ausformuliert. Es war 2022 und Robert tat aktiv nichts. Das Nichtstun stand im Zentrum.
Dabei hatte er viel auf den See gestarrt. Er hatte morgens auf den See gestarrt und abends auch und dazwischen. Bei Nebel hatte er auf den See gestarrt und auch bei Regen und manchmal war er aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen. Irgendwann hatte sich Gewissen gemeldet und er spürte, dass er mindestens irgendeine Art der Beschäftigung brauchte, um noch weiter nichts zu tun. Stricken war der überzeugendste Idee, die ihm einfiel. Robert war in den Wollladen nahe der Oper gegangen und hatte dreizehn Knäul dicke schwarze Wolle und ein Paar Stricknadeln gekauft. Eine ältere Dame auf youtube brachte ihm die Grundlagen bei, es fiel ihm nicht schwer, er musste nur ein Mal zurückspulen. Dann strickte Robert seine erste Bahn und starrte dabei auf den See. Er fühlte sich wohl und spürte, wie er langsam aufhörte zu denken.
Und trotzdem, so wie es sich schließlich gehörte, hatte Robert dann das Stricken, also das Nichtstun, in einen peniblen Tagesablauf eingebettet. Das Chaos ist da, um geordnet zu werden. Die Menschen sind da, um Ordnung zu schaffen. Die Haltung fütterte ihn vor Allem sein Vater mit Löffeln und seine zaghafte Gegenwehr in der Pubertät war zwecklos. Heute glaubte Robert an Ordnung.
Morgens nach dem Zähne putzen, machte Robert Kaffee und trank den Kaffee in kleinen rhythmischen Zügen. Dabei starrte er zum ersten Mal des Tages auf den See. Nach dem Kaffee nahm er den Besen und fegte die Wohnung. Dazu hatte er einmal in einem asiatischen Supermarkt ein Besen-und-Kehrblech-Ensemble aus gelbem Plastik gekauft. Auch die Besenborsten waren gelb und aus Plastik. Der Besen war lang, so dass man im Stehen fegen konnte und auch die Schaufel hatte einen Stiel mit einer Halterung, in die der Besenstiel hineingeklickt werden konnte. Oben, am Ende des Besens war ein gelber Plastikhase angebracht, den Robert als eine zeitgemäße Interpretation des Hasen von Dürer verstand. Wie sehr der Dürerhase im Bildgedächtnis der chinesischen Kultur verankert war, wusste Robert nicht.
Robert und der Dürerhase fegten jeden Morgen die Wohnung. Danach setzte Robert sich auf den Stuhl am Fenster, strickte und starrte auf den See. Um Punkt 12:30 klingelte der Wecker seines Smartphones und er legte die Stricknadeln zur Seite. Dann ging er in die Küche und kochte im Wasserkocher Wasser, griff eine asiatische Tütensuppe aus dem Vorratsschrank und überbrühte die synthetischen Nudelwürmer mit dem kochend heißen Wasser. Er gab die Gewürzmischung hinzu und löffelte die Suppe, nach dem er sie exakt achtineinhalb Minuten hatte ziehen lassen. Dabei starrte er auf den See. Danach strickte er weiter.
Pünktlich um 18:00 klingelte der Wecker nochmals und Robert legte das Strickzeug zur Seite. Dann spazierte er runter zum See, um für eine Stunde Enten zu beobachten. Gegen Viertel nach Sieben war er wieder zu Hause. Er aß vier bis fünf Scheiben Knäckebrot und trank einen Pfefferminztee, um sich danach mit seinem Smartphone auf die Couch zu legen. Online laß er für jeweils eine Stunde die Neue Zürcher Zeitung und dann die New York Times. Zum Schluss schaltete er auf Instagram um, schlürfte Unmengen von Reels in sich hinein, die ihm von den fremden Algorithmen vorgeschlagen wurden, bis sich sein Kopf weich und müde anfühlte.
Die Tage wurden zu Wochen und Robert strickte ohne ein besonderes Ziel. Seltsame schwarze Würste entstanden und eine löchrige Decke, die jeden Tag wuchs. Robert dachte, das eine acht stündige Nahaufnahme seiner Finger, wie sie und die Nadeln Masche um Masche ineinanderwebten, zum einen sehr schön aussehen müsste und zum andern auf youtube erst zu einem Geheimtipp und dann zu einem Erfolg werden würde. Sein Video würde in Playlists mit knisternden Kaminfeuern und beruhigenden Steadycamfilmen von endlosen Zugfahrten erscheinen. In den Hashtags würde er noch so etwas wie mindfullness oder newspirituality hinzufügen. Machen würde er das Video natürlich nie. Das Video tatsächlich zu machen würde seinen angestrebten Idealzustand der aktiven Passivität fast diskreditieren. Er war zufrieden an der Welt einfach nicht teilzunehmen und fühlte sich wie ein Souflé, aus dem die Luft gewichen war, angenehm flach. Das war Vergangenheit.
Konstaniert hatte Robert immer noch die Eingangstür der Gotthard Bar in der Hand. Die wenigen Haare seiner Arme drückten ihre verspannten Nacken gegen die Ärmel seines Hemdes.
Eben saß er noch allein an der Bar und strickte in Gedanken Pläne, die er niemals umsetzen würde, als jemand neben ihm ein Bier bestellte. Robert hatte die junge Frau kurz gemustert. Ihr Akzent verriet, dass sie aus Deutschland kam, vielleicht aus dem Süden, vielleicht Stuttgart. Er schätzte sie auf Mitte Dreißig, sie hatte vereinzelte Sommersprossen auf den Wangen. Sommersprossen im Winter, Robert fand das attraktiv. Dann tat er etwas, was er sonst nie tat und sprach sie an.
„Ganz schön saftige Preise, oder?“ Sie drehte sich zu ihm und er konnte spüren, wie sie ihn binnen einer Millisekunde gescannt hatte. „Hmm… War es denn nicht schon immer luxuriös sich außer Haus zu betrinken?“, fragte sie unbeeindruckt zurück. Robert war sofort klar, dass sie schlau war. Sein Bauch kribbelte. „Ja, vielleicht“, sagte er dann. „Aber ich meine etwas ganz Anderes. Ich meine die Inflation. Wachstum gibt es doch nur bei Lebewesen und Ethik gab es eigentlich noch nie. Die Weizenpreise, weisst du. Ich habe das Gefühl, jede Krise ist ein weiteres Kapitel im großen Buch der Kollapsologie. Was denkst du? Kannst du dich an eine Zeit erinnern, die nicht Krise war? Ich bin übrigens Robert“. „Warte, du meinst…“
Robert wartete nicht. „Nein, du verstehst mich nicht, ich meine, das Öl. Die Klimaflüchtlinge, meine ich. Die Klimaflüchtlinge der Gegenwart und der Zukunft, ich meine die Welt und die Angst, ich meine Kinder, ich meine Überschwemmungen, Schuld, Forschung, Wissen und Technik, ich meine die ganzen Innovationen, die keine sind. Ich meine den Erfolg der Geschichte, der ihr Recht gibt, während die Geschichte sich selbst erzählt. Ich meine, dass es mir fantastisch geht und das der Radius meines Bauchnabels jeden Tag wächst. Das meine ich. Das Wachstum, darf nicht aufhören, sagen die Männer an der Börse, was ich nicht glaube, was ich aber überall lese. Was ich meine sind Krokusse und das Unbehagen im Stadtpark, die Politik. Warum gibt es keine Partei, die Die Abstrakte heißt? Beethoven war taub und konnte deswegen Musik machen. Vielleicht wird das Kind im Teich auch einfach nicht gerettet, meine ich, und unsere Knochen verstreuen sich zusammen mit Millionen von Hähnchenschenkeln auf der Erdoberfläche und die Geologen der Zukunft, die vielleicht auch alle taub sind, damit sie besser sehen können, sprechen vom sechsten großen Massensterben. Bald. Ich meine keine Moral, nur Karriere und Champagner und die Opfer, die Idealisten, Rettung nein, Altare schon. Langzeitinvestments in Antinatalismus als Idee. Ich meine Regenfälle und Bäche und Flüsse von satten weißen Männern, die durch ihren Alltag treiben und auf denen einbeinige Störche stehen, die auf ihre toten Partner warten. Ich meine den Widerspruch von Hunger und Glück und die Übereinkunft von Tot und Totalitarismus. Freiheit und Zoo sind das Gleiche, Zeit gibt’s auch nicht. Ich meine die Einschränkungen, die Vernunft, die Allgemeinheit, die ausbleibende Gerechtigkeit, auf die alle warten, ich meine Links, Rechts, Existenzminimum, Verteilung und Würde, ich meine die Verantwortung der gesamten globalen Gemeinschaft und die Energie, die das braucht und die niemand hat. Ich meine Klassen, die Rassen hassen, ich meine Uns und die Risiken, ich meine mich und die Normen, dich und die Institutionen, uns und die Staaten, uns und Pflichten, uns und die Planeten, uns und die Oktopoden, uns und die anderen, die nie wir sind. Ich meine Fehler, Verluste und Verfluchte. Das Universum kennt keinen Trost, Intelligenz, Kosmos und die Kosten der Biodiversität. Die Welt ist nicht die Erde. Nicht-Welt, Doch-Welt, Galapagos, Nische, Nietzsche, Schönheit und die Biester. Ich meine die Schöpfung, den Zufall, das Wunder und Vogelgrippe. Ich meine die Langeweile, Laptop, Langeweile, Sonne, Langeweile, Mond, Langeweile, Sterne, Stunden, Langeweile Fortpflanzung, und dann das Krisenmanagment. Lösungsorientiert, immer lösungsorientiert und trotzdem arbeitslos. Ich meine die Steine, und die Projekte, die Projektionen, die Generationen, tausende Generationen, zehntausend Millionen und Billionen Generationen, Hoffnung, Ideen, Glück, Glück im Unglück ist heute Fata Morgana in der weltweiten Atacama Wüste. Ich meine die Waldbrände und die Tütensuppen im Angriffskrieg, Schildkröten in PET-Flaschen, ich würde gerne einmal im See schwimmen und nicht in der Sintflut, die trotzdem kommt, obwohl es keinen Gott gibt.“
Die junge Frau hatte bei Roberts drittem Satz ihr Bier bezahlt und bei Roberts viertem Satz saß sie schon an einem Tisch am Ende des Raumes, weit weg von ihm und seinem Text. Robert spürte wie sich das Gemisch aus Scham- und Angstschweiß unter seiner Hand mit dem Türgriff der Bar verbunden hatte. Er war festgefroren.
Text: Benedikt Bock
Mit freundlicher Unterstützung von/Kindly supported by:
Pro Helvetia | Kultur Stadt Bern | Swisslos Lotteriefonds Kanton Bern | Burgergemeinde Bern | Temperatio | GVB Kulturstiftung
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02.07.–19.08.2022
Benedikt Bock | Keren Cytter | Vincente Lesser | Manuela Morales Délano | Dominic Michel | Ser Serpas
Curated by Violeta Burckhardt & Andreas Wagner
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Trickled Harness baleful fall in, 2022, mixed media, 220 x 250 x 170 cm, Ser Serpas, Courtesy the artist and Karma International, Zurich
Angst I, 2022, sausage paper on photo cardboard, 40 x 50cm, Benedikt Bock, courtesy of the artist
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Parents apartment, 2020, pen on paper, 98 x 103 cm, Keren Cytter, courtesy of Cliff’s father
Clearspring Dafalgan, 2022, Silkscreen ink on cardboard boxes, 18.5 x 9 x 5 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
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McVitie's Dafalgan, 2022, Silkscreen ink on cardboard boxes, 9 x 18 x 7 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
lane Dafalgan, 2022, Silkscreen ink on cardboard boxes, 21 x 9 x 9.5 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
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Taco Estaca, 2022, wood, fabric, acrylic paint and high heel, 285 x 10 x 20 cm, Manuela Morales Délano, courtesy of the artist
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Queens, 2021, pen and markers on paper, 47 x 37 cm, Keren Cytter, courtesy of the artist
Gate to Llano del Rio, 2021, ceramic, cigarettes, 55 x 55 x 60 cm, Vincente Lesser, courtesy of the artist
Taco Estaquita, Year 2021, wood, fabric, acrylic paint and high heel, 110 x 10 x 20 cm, Manuela Morales Délano, courtesy of the artist
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Track I/II, 2022, wood, metal, faux leather, paint, 25 x 16 x 27 cm, Dominic Michel, courtesy of the artist
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Robert Zweifel – Die gelben Borsten des Dürerhasen
Robert Zweifel – Die gelben Borsten des Dürerhasen Robert zog langsam die hölzerne Eingangstür der Gotthard Bar hinter sich zu. Auch der Sauerstoff der guten und kalten Winterluft, der erst in seine Lungen und dann in seinen Kreislauf strömte, war nicht im Stande seinen Kopf von der Belagerung zu befreien, die scheinbar unbemerkt durch die Hintertür seines Unterbewusstseins in das Wohnzimmer seiner Denkstube vorgedrungen war. Alle freien Räume waren umzingelt, sein Hirn war besetzt.
Er starrte an die gegenüberliegende Hauswand und sah sich selbst, wie er eben noch an der Bar saß und regelmäßig kleine Schlücke von einem Bier nahm, das er durch ein Neues ersetzen ließ, wenn er den Boden des Glases sah. Robert saß gern an der Bar. Eine Bar war für ihn wie ein Strand, an den zufällige Gespräche gespült wurden wie Treibholz. Ähnlich wie er selbst. Vor zweiundvierzig Jahren gestrandet auf der Erde, gestrandet in Zentraleuropa und gestrandet auf einer Insel des Wohlstands, deren Palmen Kokosnüsse trugen, die bis oben hin mit dem süßen Saft der Finanzmärkte und des Transithandels gefüllt waren und schmatzend glucksten, wenn man sie schüttelte. In der Gotthard Bar war das allerdings egal. Hier schien alles irgendwie austauschbar und gewöhnlich. Und hier an der Bar konnte Robert einfach sein. Er musste nichts tun und wurde hier auch in Ruhe gelassen, sein Prinzip der aktiven Passivität. Das Prinzip der aktiven Passivität hatte Robert in den letzten Wochen für sich zu einer Art Lebensreform ausformuliert. Es war 2022 und Robert tat aktiv nichts. Das Nichtstun stand im Zentrum.
Dabei hatte er viel auf den See gestarrt. Er hatte morgens auf den See gestarrt und abends auch und dazwischen. Bei Nebel hatte er auf den See gestarrt und auch bei Regen und manchmal war er aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen. Irgendwann hatte sich Gewissen gemeldet und er spürte, dass er mindestens irgendeine Art der Beschäftigung brauchte, um noch weiter nichts zu tun. Stricken war der überzeugendste Idee, die ihm einfiel. Robert war in den Wollladen nahe der Oper gegangen und hatte dreizehn Knäul dicke schwarze Wolle und ein Paar Stricknadeln gekauft. Eine ältere Dame auf youtube brachte ihm die Grundlagen bei, es fiel ihm nicht schwer, er musste nur ein Mal zurückspulen. Dann strickte Robert seine erste Bahn und starrte dabei auf den See. Er fühlte sich wohl und spürte, wie er langsam aufhörte zu denken.
Und trotzdem, so wie es sich schließlich gehörte, hatte Robert dann das Stricken, also das Nichtstun, in einen peniblen Tagesablauf eingebettet. Das Chaos ist da, um geordnet zu werden. Die Menschen sind da, um Ordnung zu schaffen. Die Haltung fütterte ihn vor Allem sein Vater mit Löffeln und seine zaghafte Gegenwehr in der Pubertät war zwecklos. Heute glaubte Robert an Ordnung.
Morgens nach dem Zähne putzen, machte Robert Kaffee und trank den Kaffee in kleinen rhythmischen Zügen. Dabei starrte er zum ersten Mal des Tages auf den See. Nach dem Kaffee nahm er den Besen und fegte die Wohnung. Dazu hatte er einmal in einem asiatischen Supermarkt ein Besen-und-Kehrblech-Ensemble aus gelbem Plastik gekauft. Auch die Besenborsten waren gelb und aus Plastik. Der Besen war lang, so dass man im Stehen fegen konnte und auch die Schaufel hatte einen Stiel mit einer Halterung, in die der Besenstiel hineingeklickt werden konnte. Oben, am Ende des Besens war ein gelber Plastikhase angebracht, den Robert als eine zeitgemäße Interpretation des Hasen von Dürer verstand. Wie sehr der Dürerhase im Bildgedächtnis der chinesischen Kultur verankert war, wusste Robert nicht.
Robert und der Dürerhase fegten jeden Morgen die Wohnung. Danach setzte Robert sich auf den Stuhl am Fenster, strickte und starrte auf den See. Um Punkt 12:30 klingelte der Wecker seines Smartphones und er legte die Stricknadeln zur Seite. Dann ging er in die Küche und kochte im Wasserkocher Wasser, griff eine asiatische Tütensuppe aus dem Vorratsschrank und überbrühte die synthetischen Nudelwürmer mit dem kochend heißen Wasser. Er gab die Gewürzmischung hinzu und löffelte die Suppe, nach dem er sie exakt achtineinhalb Minuten hatte ziehen lassen. Dabei starrte er auf den See. Danach strickte er weiter.
Pünktlich um 18:00 klingelte der Wecker nochmals und Robert legte das Strickzeug zur Seite. Dann spazierte er runter zum See, um für eine Stunde Enten zu beobachten. Gegen Viertel nach Sieben war er wieder zu Hause. Er aß vier bis fünf Scheiben Knäckebrot und trank einen Pfefferminztee, um sich danach mit seinem Smartphone auf die Couch zu legen. Online laß er für jeweils eine Stunde die Neue Zürcher Zeitung und dann die New York Times. Zum Schluss schaltete er auf Instagram um, schlürfte Unmengen von Reels in sich hinein, die ihm von den fremden Algorithmen vorgeschlagen wurden, bis sich sein Kopf weich und müde anfühlte.
Die Tage wurden zu Wochen und Robert strickte ohne ein besonderes Ziel. Seltsame schwarze Würste entstanden und eine löchrige Decke, die jeden Tag wuchs. Robert dachte, das eine acht stündige Nahaufnahme seiner Finger, wie sie und die Nadeln Masche um Masche ineinanderwebten, zum einen sehr schön aussehen müsste und zum andern auf youtube erst zu einem Geheimtipp und dann zu einem Erfolg werden würde. Sein Video würde in Playlists mit knisternden Kaminfeuern und beruhigenden Steadycamfilmen von endlosen Zugfahrten erscheinen. In den Hashtags würde er noch so etwas wie mindfullness oder newspirituality hinzufügen. Machen würde er das Video natürlich nie. Das Video tatsächlich zu machen würde seinen angestrebten Idealzustand der aktiven Passivität fast diskreditieren. Er war zufrieden an der Welt einfach nicht teilzunehmen und fühlte sich wie ein Souflé, aus dem die Luft gewichen war, angenehm flach. Das war Vergangenheit.
Konstaniert hatte Robert immer noch die Eingangstür der Gotthard Bar in der Hand. Die wenigen Haare seiner Arme drückten ihre verspannten Nacken gegen die Ärmel seines Hemdes.
Eben saß er noch allein an der Bar und strickte in Gedanken Pläne, die er niemals umsetzen würde, als jemand neben ihm ein Bier bestellte. Robert hatte die junge Frau kurz gemustert. Ihr Akzent verriet, dass sie aus Deutschland kam, vielleicht aus dem Süden, vielleicht Stuttgart. Er schätzte sie auf Mitte Dreißig, sie hatte vereinzelte Sommersprossen auf den Wangen. Sommersprossen im Winter, Robert fand das attraktiv. Dann tat er etwas, was er sonst nie tat und sprach sie an.
„Ganz schön saftige Preise, oder?“ Sie drehte sich zu ihm und er konnte spüren, wie sie ihn binnen einer Millisekunde gescannt hatte. „Hmm… War es denn nicht schon immer luxuriös sich außer Haus zu betrinken?“, fragte sie unbeeindruckt zurück. Robert war sofort klar, dass sie schlau war. Sein Bauch kribbelte. „Ja, vielleicht“, sagte er dann. „Aber ich meine etwas ganz Anderes. Ich meine die Inflation. Wachstum gibt es doch nur bei Lebewesen und Ethik gab es eigentlich noch nie. Die Weizenpreise, weisst du. Ich habe das Gefühl, jede Krise ist ein weiteres Kapitel im großen Buch der Kollapsologie. Was denkst du? Kannst du dich an eine Zeit erinnern, die nicht Krise war? Ich bin übrigens Robert“. „Warte, du meinst…“
Robert wartete nicht. „Nein, du verstehst mich nicht, ich meine, das Öl. Die Klimaflüchtlinge, meine ich. Die Klimaflüchtlinge der Gegenwart und der Zukunft, ich meine die Welt und die Angst, ich meine Kinder, ich meine Überschwemmungen, Schuld, Forschung, Wissen und Technik, ich meine die ganzen Innovationen, die keine sind. Ich meine den Erfolg der Geschichte, der ihr Recht gibt, während die Geschichte sich selbst erzählt. Ich meine, dass es mir fantastisch geht und das der Radius meines Bauchnabels jeden Tag wächst. Das meine ich. Das Wachstum, darf nicht aufhören, sagen die Männer an der Börse, was ich nicht glaube, was ich aber überall lese. Was ich meine sind Krokusse und das Unbehagen im Stadtpark, die Politik. Warum gibt es keine Partei, die Die Abstrakte heißt? Beethoven war taub und konnte deswegen Musik machen. Vielleicht wird das Kind im Teich auch einfach nicht gerettet, meine ich, und unsere Knochen verstreuen sich zusammen mit Millionen von Hähnchenschenkeln auf der Erdoberfläche und die Geologen der Zukunft, die vielleicht auch alle taub sind, damit sie besser sehen können, sprechen vom sechsten großen Massensterben. Bald. Ich meine keine Moral, nur Karriere und Champagner und die Opfer, die Idealisten, Rettung nein, Altare schon. Langzeitinvestments in Antinatalismus als Idee. Ich meine Regenfälle und Bäche und Flüsse von satten weißen Männern, die durch ihren Alltag treiben und auf denen einbeinige Störche stehen, die auf ihre toten Partner warten. Ich meine den Widerspruch von Hunger und Glück und die Übereinkunft von Tot und Totalitarismus. Freiheit und Zoo sind das Gleiche, Zeit gibt’s auch nicht. Ich meine die Einschränkungen, die Vernunft, die Allgemeinheit, die ausbleibende Gerechtigkeit, auf die alle warten, ich meine Links, Rechts, Existenzminimum, Verteilung und Würde, ich meine die Verantwortung der gesamten globalen Gemeinschaft und die Energie, die das braucht und die niemand hat. Ich meine Klassen, die Rassen hassen, ich meine Uns und die Risiken, ich meine mich und die Normen, dich und die Institutionen, uns und die Staaten, uns und Pflichten, uns und die Planeten, uns und die Oktopoden, uns und die anderen, die nie wir sind. Ich meine Fehler, Verluste und Verfluchte. Das Universum kennt keinen Trost, Intelligenz, Kosmos und die Kosten der Biodiversität. Die Welt ist nicht die Erde. Nicht-Welt, Doch-Welt, Galapagos, Nische, Nietzsche, Schönheit und die Biester. Ich meine die Schöpfung, den Zufall, das Wunder und Vogelgrippe. Ich meine die Langeweile, Laptop, Langeweile, Sonne, Langeweile, Mond, Langeweile, Sterne, Stunden, Langeweile Fortpflanzung, und dann das Krisenmanagment. Lösungsorientiert, immer lösungsorientiert und trotzdem arbeitslos. Ich meine die Steine, und die Projekte, die Projektionen, die Generationen, tausende Generationen, zehntausend Millionen und Billionen Generationen, Hoffnung, Ideen, Glück, Glück im Unglück ist heute Fata Morgana in der weltweiten Atacama Wüste. Ich meine die Waldbrände und die Tütensuppen im Angriffskrieg, Schildkröten in PET-Flaschen, ich würde gerne einmal im See schwimmen und nicht in der Sintflut, die trotzdem kommt, obwohl es keinen Gott gibt.“
Die junge Frau hatte bei Roberts drittem Satz ihr Bier bezahlt und bei Roberts viertem Satz saß sie schon an einem Tisch am Ende des Raumes, weit weg von ihm und seinem Text. Robert spürte wie sich das Gemisch aus Scham- und Angstschweiß unter seiner Hand mit dem Türgriff der Bar verbunden hatte. Er war festgefroren.
Text: Benedikt Bock
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